Kinderbuch
96 S. | 31 vierfarbige Illustrationen von Tanja Stephani
2. Band der Reihe InsBesondere Kinder
kwasi verlag 2022
22 Fr. | 19 € || zum Vorlesen ab 6 Jahren, zum Selberlesen ab 8 Jahren
ISBN 978-3-906183-32-9
Autorin und Illustratorin
Noëmi Sacher, 1980 in Schwyz geboren, studierte Germanistik, Volksliteratur und Kunstgeschichte in Zürich und schloss mit einer Arbeit über Bestsellerforschung am Beispiel von Dan Brown ab. Absolvierte dann die Schule für Angewandte Lingistik in Zürich. Sie schreibt historische Romane, Fantasy und Kindergeschichten und lebt mit ihrer Tochter in Arth und Luzern (Schweiz).
Tanja Stephani ist Grafikerin, Illustratorin und freie Künstlerin. Sie lebt mir ihrer Familie und Tieren auf einem abgelegenen Bauernhof im Zürcher Oberland (Schweiz).
Rezensionen
„Gerade für hochsensible Kinder selbst, deren Eltern oder für die Klasse mit einem hochsensiblen Kind als Mitschüler ist dieses Buch sehr gut geeignet.“ AG Jugendliteratur und Medien, GEW
„Treffend und eindringlich wird die Intensität von Ennios Gefühlswelt ausformuliert – die geballte Ladung neuer Forderungen und Erlebnisse, die er verarbeiten muss.“ Katharina Kellerhals, KJM Bern-Fribourg
Neurodiversität
Dinge hören und riechen, die niemandem sonst auffallen.
Gefühle von anderen übernehmen, als ob es die eigenen wären.
Sich (nur) geborgen fühlen in der immergleichen Umgebung.
Überraschungen, Neues und Fremdes – was vielen Kindern nichts ausmacht oder sie sogar inspirieren mag, führt bei hochsensiblen Kindern dazu, dass sie gestresst sind, Mühe haben zu kommunizieren und sich am liebsten in einem Schildkrötenpanzer verkriechen möchten.
Hochsensible, intensiv wahrnehmende und fühlende Kinder wie Ennio gelten oft fälschlicherweise als widerborstig – was in der Familie zu Schwierigkeiten führen kann. Dann helfen Bücher dabei, das Problem erlebbar zu machen und zu thematisieren: Bücher aus der Reihe „insBesondere Kinder“.
Ennio Empfindlich ist kein Sachbuch und noch weniger ein Buch um Kinder zurechtzubiegen!
Es ist die warmherzige Geschichte eines sensiblen Jungen, der sich nach einem Umzug erst wieder zurecht finden muss. Die Innensicht des Protagonisten gibt uns die Möglichkeit, sein Handeln als Folge seiner intensiven Erlebnisse und Gefühle zu sehen. Er wirkt verrückter als andere, empfindsamer, fantasievoller.
Besonders eben – und gerade darum wie (fast) jedes Kind.
Mit einem Nachwort für Eltern von Bettina Gut, Coach und Beraterin für hochsensible Kinder und Erwachsene.
Ennio Empfindlich
Beschreibung
Der achtjährige Ennio ist viel zu empfindlich – sagt sein Vater. Ennio findet sich genau richtig. Aber er versteht nicht, wieso sich alles ändern muss. Der Umzug aufs Land ist ihm schon zu viel, nun stinkt auch noch das neue Haus nach Fisch, sein Zimmer ist so kahl wie der Warteraum bei der Zahnärztin, und vor allem hat er sein Piratenbett nicht mehr!
Als auch noch das neue Nachbarsmädchen bei ihm klingelt, geht alles so richtig schief. Hätte Papa nur nicht von ihm verlangt, dass er mit dieser Kalila spielt. Dann wäre ihr blauer Drache nicht gestohlen worden, und er wäre nicht den lauten Jungs begegnet. Kein Wunder, dass er sich in sein Zimmer zurückzieht und heult.
Dummerweise ist er aber der Einzige, der die Sache wieder geradebiegen kann – wenn er es schafft, über sich selbst hinauszuwachsen.
Die Geschichte zeigt das intensive Erleben des hochsensiblen Ennio konsequent aus der Innensicht. Sie ist eine Einladung, die Welt durch seine Augen zu betrachen und zu erfühlen.
Leseprobe
Ennio schnuppert. Es stinkt nach altem Fisch.
„Das ist die Farbe“, sagt Papa und lacht. „Gestern waren die Maler da und haben alle Wände neu gestrichen.“
Ob Maler da waren oder nicht, ist Ennio egal. Was ihm nicht egal ist: In einem Haus wohnen, das nach Fisch riecht. Und in dem es keine richtigen Möbel gibt, dafür jede Menge Kisten. Die Kisten sind an der Wand gestapelt und jede hat einen Kleber: Keller, Schlafzimmer, Küche, Atelier.
Das Haus ist groß. Und ganz anders als ihre Wohnung in der Stadt. Dort gab es ein Zimmer für Ennio und eins für Mama und Papa. Dann noch die Küche und das Wohnzimmer. Hier gibt es so viele Zimmer, dass Ennio nicht einmal Lust hat, sie zu zählen. Außerdem eine Treppe. Eine Treppe in der Wohnung drin! Sie führt zu den Schlafzimmern, sagt Mama.
„Wo wohnen denn die anderen?“, fragt Ennio.
Zu Hause, da hat die Treppe zu den anderen Wohnungen geführt. Zu der von der alten Frau Kretz, die immer geschimpft hat. Und zu anderen Leuten, von denen er nicht weiß, wie sie heißen.
„Unsere Nachbarn?“, fragt Mama. „Die wohnen im Haus nebenan. Weißt du was? Ich glaube, sie haben auch Kinder. Mit denen kannst du ab jetzt spielen.“
Bloß nicht! Kinder sind laut und nervig und wollen immerzu Fußball spielen. Ennio beschließt, dass er sie auf keinen Fall mögen wird.
„Komm, wir bauen dein Bett zusammen“, meint Papa. „Ich zeig dir dein Zimmer. Mach die Augen zu, es ist eine Überraschung.“
Ennio mag keine Überraschung. Überraschungen sind nichts weiter als Dinge, die anders sind. Ennio mag es, wenn alles gleich bleibt. Aber Papa macht sein fröhliches Bärengesicht. Als ob der Papa-Bär gleich einen ganzen Topf Honig ausschlecken dürfte. Das hat er zu Hause nur noch selten gemacht, darum schließt Ennio folgsam die Augen und stolpert an der Hand von Papa die Treppe hinauf.
Es geht geradeaus und um eine Ecke. Papa stellt sich hinter ihn und legt ihm die Hand auf die Augen. Dann ruft er: „Eins, zwei, simsalabei“, und zieht die Hand weg.
Ennio schlägt die Augen auf. Das Zimmer ist groß und weiß. Es sieht aus wie beim Zahnarzt. Ein paar Kisten stehen an der Wand. Darauf steht „Ennio“.
Ennio schluckt. Wenn es schon nach Fisch stinkt, warum sind dann die Wände nicht grün? Sein altes Zimmer hatte grüne Wände und in der Ecke stand sein Piratenbett. Und es gab ein Fenster. Das neue Zimmer hat kein Fenster. Stattdessen eine Glastür, die auf einen Balkon führt. Papa macht sie gerade auf. „… und das Beste“, sagt er, „schau hier! Du hast eine eigene Treppe in den Garten!“
Ennio kämpft gegen die Tränen an. Er will keine Treppe in den Garten haben und auch keine Tür anstelle eines Fensters. Sein Piratenbett soll hier stehen. Das hat Ennio schon, seit er klein war. Oben schläft er, und unten gibt es ein Versteck mit Vorhängen. Das ist Ennios Lieblingsplatz. Dort hat er alle seine Schätze versteckt. Zum Beispiel seine Pilotenlampe mit den verschiedenen Farben.
„Und hier ist dein Bett“, sagt Papa. Er zeigt auf lange Kartonkisten. „Ich habe es extra für dich gekauft – als Geschenk zum neuen Haus!“
Ennio erstarrt. „Ein neues Bett?“ Das meint Papa doch nicht ernst? Das kann nicht sein. Bestimmt ist es nur ein Spaß, um ihn zu erschrecken. „Wo ist das Piratenbett?“
„Für das Piratenbett bist du doch schon seit einer Weile zu groß“, sagt Papa. „Jetzt bist du ein junger Mann und brauchst kein Kinderbett mehr. Du kannst das Neue selbst zusammenbauen, ich zeig dir, wie das geht.“
Ennio ist acht Jahre alt, und das alte Bett ist dafür genau richtig. Auch wenn er das Steuerrad schon lange nicht mehr benutzt. „Was hast du mit meinem Piratenbett gemacht?“, schreit er und die Tränen, die er vorhin noch zurückgehalten hat, schießen ihm in die Augen.
„Das alte Bett?“, fragt Papa, als hätte er nicht verstanden.
„Mein Bett!“
„Das habe ich fortgegeben“, sagt Papa, „du hast ja jetzt das Neue. Schau, hier ist die Bauanleitung. Zuerst brauchen wir einen Schraubenzieher.“
Aber Ennio will nicht. Er will sein altes Bett zurückhaben, das mit den Vorhängen. Papa muss das doch wissen! Er muss jetzt gleich das Piratenbett holen und die Pilotenlampe, und das Zimmer muss grüne Wände haben. Mama und Papa haben so viele schöne Dinge über das neue Haus erzählt. Aber Ennio hat schon die ganze Zeit gewusst, dass es kein bisschen schön wird!
Illustrationen